Liebe Sonja,

„Wer schön sein will muss leiden. Sagt der Schmerz…..“ das ist der Untertitel deines Buchs „gegessen“, in dem Du deinen Weg aus der Essstörung heraus beschreibst. Mich hat schon der Titel so angesprochen, dass ich es sofort gekauft und in einem Ruck durchgelesen habe. Ich fand es spannend von der ersten Seite bis zum Schluss, deine Geschichte berührt, und für mich hat dein Buch auch Präventionswirkung. Denn auch „Normal-Esser“ haben ein problematisches Essverhalten und könnten leicht in die Sucht abdriften. Das ist manchmal ein schmaler Grad, der einem gar nicht so bewusst ist. Ich freue mich daher ganz besonders, dass Du mir einige Fragen zur weihnachtlichen Esszeit, die aber sicher ganz generell von Interesse sind, beantwortest. So als eine Art Vorwort zu dem keepweightschen Adventskalender, der, oh ja, es ist bald der 1. Dezember, auf keepweight erscheint. Der Kalender befasst sich mit den Themen Essen und das Gewicht im eigenen Leben und enthält pro Fenster ein manchmal nachdenklich machendes oder auch lustiges Zitat, verbunden mit ein paar Impulsfragen, die so Gelegenheit geben, sich seine Gedanken, die einem das (Ess-)Leben schwer machen, anzusehen.

Die Adventszeit und auch Weihnachten sind esstechnisch oft eine problematische, weil eben auch emotionale, stressbeladene Zeit. Ist diese Zeit für dich noch eine Herausforderung?

Nein. Es ist eine glückliche Zeit, vor allem mit meiner 2-jährigen Tochter, die langsam Weihnachten und auch ihren Geburtstag, sie wurde kurz vor Weihnachten geboren, wahrnimmt. Und da freue ich mich drauf. Es gibt in meinem Leben immer wieder Phasen, in denen ich merke, jetzt könnte es schwierig werden. Da ich aber viel über die Krankheit weiß, ist es eher ein flüchtiger Gedanke, das hat also nicht speziell mit Weihnachten zu tun.

Was hast du gemacht, dass es für dich anders ist?

Für mich war immer vielmehr der Herbst eine Phase, in der ich depressiv geworden bin. Die Gründe hierzu sind vielfältig und das würde hier zu weit führen. Aber ich habe irgendwie gelernt, die depressiven Phasen zu lieben, ich habe gelernt, dass Leid auch Inspiration ist, weil ich mir, wenn ich leide, mehr Gedanken über mich selber mache und besser hingucke, mehr bei mir bin und neue Ziele finde.

Ganz konkret: Gibt es Leckereien, bei denen du weißt, wenn du die isst, wird es schwierig? Oft kommen dabei ja so Gedanken, jetzt ist alles egal, ich esse das jetzt alles auf und noch viel mehr, oder der Gedanke, ich esse jetzt gar nichts mehr. Wie ist das bei Dir?

Pasta und Pizza. Ich esse beides nur sehr selten. Da ich aber von allem nicht so viel esse, habe ich auch nicht so einen Heißhunger, mir reicht es zum Beispiel 2 Stücke Schokolade zu essen, es muss nicht die ganze Tafel zu sein. Vielleicht habe ich da Glück. Aber ich esse täglich Schokolade.

Wie trennst du Essen und Gefühle?

Gar nicht mehr, Gott sei Dank. Essen ist Freude und vor allem das Zubereiten von Essen ist auch Hingabe und Liebe zeigen, vor allem mit meiner Kleinen. Ich esse selber auch mit Lust und Freude und höre auf, wenn ich satt bin. Ich bereite sehr gerne Essen für meine Familie zu. Zuletzt habe ich an den Abenden keine Kohlenhydrate gegessen, aber ich möchte meiner 2-jährigen Tochter auch ein Vorbild sein, und ich möchte nicht haben, dass sie bald schon anfängt, sich die Kartoffeln aus dem Essen zu pieken. Darum habe ich wieder angefangen, Abends Kohlenhydrate zu essen. Das führt jetzt nicht zu einer schweren Depression, aber es ist eine Herausforderung für mich.

Was hat dir – am besten - geholfen dein problematisches Essverhalten zu normalisieren?

Das würde ich jetzt unter dem spirituellen Überbegriff Achtsamkeit und Bewusstwerdung einsortieren. Irgendwann habe ich verstanden, dass mein größtes Problem darin liegt, dass ich auf der einen Seite ein mangelndes Urvertrauen und damit verbunden ganz viele Ängste habe, und auf der anderen Seite mir angewöhnt habe, meine Gefühle zu unterdrücken, also Unsicherheit, Angst, Selbstzweifel. Mir wurde dann klar, dass die schlechten Gefühle zu unterdrücken heißt, automatisch auch alle guten Gefühle zu unterdrücken. Das kann man nicht abkoppeln. Man fühlt, oder man fühlt nicht. Dann, irgendwann, habe ich mich getraut, zu fühlen, also auch alle negativen Gefühle, Traumas, Sorgen, Scham, all das. Und ich bin den Dingen auf den Grund gegangen: warum bin ich so? Was hat das jetzt mit mir zu tun? Was hat es mit Früher zu tun? Ängste haben ja oft nichts mit der aktuellen Situation zu tun, sondern sind alte Ängste. Traurigkeit ist manchmal sehr alte Traurigkeit. Je stabiler ich wurde, desto besser lief das mit dem Essen. Ich habe mich sozusagen selbst repariert.

Was „erfüllt“ dich jetzt stattdessen?

Alles, das ist das Schöne. In der schlimmsten Zeit habe ich ja rund um die Uhr darüber nachgedacht, was ich noch tun kann, um Kalorien zu verbrennen. Ich habe mich mit nichts anderem beschäftigt, als mit Essen, mit keinem Buch, keinem Film, keinem Menschen. Das Schlimme war, dass mein Leben so leer war. Jetzt kann ich alles. Ich lese Bücher, bastle stundenlang mit meinem Kind, hüpfe mit ihm in Pfützen herum. Ich mag akademische Herausforderungen, diskutieren. Mein Leben fühlt sich sehr bunt und reich an.

Wie gehst du mit der Scham um, die einen ja erfasst, wenn man über seine Essprobleme sprechen soll, spricht?

Scham baut sich ja ab, je länger es her ist, inzwischen kann ich über die Sucht reden, wie über das Wetter. Natürlich gibt es Momente, die triggern, aber Scham ist auch deswegen nicht mehr da, weil es keinen Grund gibt, sich zu schämen. Niemand sagt, „ih, bist du eklig“ oder so. Oft sagen die Menschen, „oh, da kenne ich auch jemanden, dem das und das passiert ist.“ Oder sogar: „Mir geht es auch so“. Das hat mir immer sehr geholfen, zu merken, dass ich nicht alleine bin. und ich frage mich heute: warum reden eigentlich nicht alle darüber?

Dein Buch „Gegessen“ ist aus meiner Sicht eine große Hilfe für Essgestörte. Sie sehen, es ist möglich den Teufelskreis Essstörung  hinter sich zu lassen. Es zeigt auch, wie wichtig es ist, sich „irgendwo“ anvertrauen zu können, nicht alles alleine schaffen zu müssen. Was hat geholfen, was nicht, was war dein Anteil bei der Entscheidung, aus den Essstörungen „auszusteigen“?

Ich wollte immer gesund werden. Es gibt ja auch immer gute Gründe, krank zu sein, da wird man versorgt, betreut, man muss nicht so viel im Haushalt machen. Das ist auch ein Schutzraum, der im Prinzip auch gut ist für Menschen, die sich überfordert fühlen vom Leben. Aber obwohl ich immer klar war, immer unbedingt gesund sein wollte, habe ich 15 Jahre dazu gebraucht. Da sieht man mal, dass es eben nicht nur eine Entscheidung ist. Das ist, glaube ich, wichtig zu begreifen – auch für Angehörige, die in ihrer Verzweiflung oft versuchen, die Kranken unter Druck zu setzen: jetzt iss doch einfach mal!
Mein größter eigener Anteil also war: nie aufzugeben. Wobei ich tolle Hilfe, Unterstützung hatte, von meiner Mutter, den richtigen Therapeuten, oder auch Freunden.

Wie bist du mit Rückfällen umgegangen?

Das war natürlich die volle Katastrophe. Und so etwas zieht sich ja über Wochen hin. Abnehmen schafft man ja auch nicht innerhalb von 30 Minuten, wenn man also rückfällig ist, dann für Wochen. Es war ganz schlimm. Aber viel später, als ich noch nicht ganz gesund war, aber schon auf dem Weg der Besserung, da sagte mir ein Ex-Drogenjunkie: Rückfälle sind doch nur Vorfälle. Das heißt nicht wirklich, dass du einen Schritt zurückmachst. Es heißt nur, dass Gesundwerden nicht von Jetzt auf Gleich geht.

Inwieweit ist die „Essstörung“ für dich noch ein Thema? Hat sie eine Signal-Wecker-Wirkung? Oder ist sie ganz verschwunden?

Ganz nicht. Ich wundere mich manchmal in Situationen, in denen ich merke, es könnte jetzt etwas passieren, dass dieses Miststück Essstörung noch in mir wohnt. Aber ich habe so viel Wissen und Kompetenz inzwischen, oft reicht es, abzuwarten, am nächsten Tag geht es dann schon wieder besser. Hätte ich nicht so viel über diese Krankheit gelernt, wäre ich nicht so stabil. Meine Tochter ist außerdem der treibende Motor, sie ist der beste Grund der Welt, auf mich selbst acht zu geben.

Hättest du ein Zitat oder einen Satz, das aus deiner Sicht für das Thema Essen und/oder das Gewicht im eigenen Leben hilfreich ist?

Auf der anderen Seite von Angst liegt Freiheit.

Liebe Sonja, tausend Dank!

 

 

Das Interview haben wir am 26-10-17 telefonisch geführt. Wenn Du mehr von Sonja lesen möchtest oder einfach über ihre Arbeit mehr wissen möchtest, dann findest du das alles hier in den folgenden links https://www.sonja-vukovic.de/ das Buch "gegessen" unter  https://www.amazon.de/Gegessen-schön-sein-leiden-Schmerz/dp/37857257 und den Trailer zum Buch hier unter https://www.youtube.com/watch?v=g_m5jWO0kZg